Erodierende Intervention

Der Künstler Martin Bruno Schmid hat fünf tragende Betonstützen am neuen Geo- und Umweltforschungszentrum in Tübingen durchschnitten, um die Grenzen der Belastbarkeit fragiler Systeme zu thematisieren.

Die Gegend um die Tübinger Morgenstelle hat sich in den letzten dreißig Jahren radikal verwandelt. Wo früher Obstbaumwiesen ein einzelnes modernes Klinikum umsäumten, bedeckt nun ein mäandernder Campus die Landschaft. An diesem Standort entsteht nach Plänen des niederländischen Architekturbüros KAAN Architecten das neue Geo- und Umweltforschungszentrum (GUZ) der Universität Tübingen. Für den öffentlichen Bau hat das Land Baden-Württemberg als Bauherr einen Kunst-am-Bau-Wettbewerb ausgeschrieben, den Martin Bruno Schmid mit seiner Arbeit „Bohrschnitt, prekär“ gewonnen hat. Der Künstler schuf mit senkrechten Sägeschnitten durch die tragenden Betonsäulen im Foyer ein eng mit dem Gebäude und seiner Bestimmung verknüpftes Werk, das den heiklen Zustand unserer Natur und Zivilisation symbolisieren soll.

Die Arbeit an den Betonsäulen im Rohbau ähnelt klassischen Bearbeitungsweisen von Steinmetzen und assoziiert gestaltende Bildhauerei, gleichzeitig verweisen die Steinbruchtechniken auf die Erdbohrungen und Abspaltungen im Fels, die moderne Geo­wissenschaftler zur Erkundung der Erde vornehmen. Indem der Künstler durch seine erodierende Intervention gemeinsam mit den Statikern und Bauausführenden an die Grenzen der Belastbarkeit der tragenden Säulen geht, versinnbildlicht er auch die Art der Zusammenarbeit, die heute von hochkomplexen Prozessen verlangt wird. Die Realisierung von „Bohrschnitt, prekär“ konnte nur im gegen­seitigen Vertrauen einer interdisziplinären Zusammenarbeit der unterschiedlichsten Fachleute erfolgen.

„Bohrschnitt, prekär“ von Martin Bruno Schmid: Kunstobjekt sind die fünf tragenden Säulen am Haupteingang des GUZ, die durch senkrechte Sä- geschnitte „gespalten“ wurden.

Martin Bruno Schmid hatte in die Entwurfszeichnungen Schnitte skizziert, deren jeweilige Länge, Lage und Ausrichtung sich erst im Verlauf des Bauprozesses bestimmen ließen. Zunächst musste an jeder Säule statisch berechnet werden, bis zu welchem Punkt die Grenzen der Belastbarkeit ausgereizt werden konnten. Nun lässt sich auch visuell ablesen, wie die Lasten verteilt sind. Je größer sie waren, desto kürzer fiel der Schnitt aus. Die Statiker mussten bis ans rechnerische Maximum gehen, an ihre Vorgaben hatte sich der Künstler zu halten. Das beinhaltete auch, dass die Bewehrung im Innern der Säulen nicht tangiert werden durfte, was sich auf die Positionierung der Schnitte auswirkte. Beim Rohbau hielt sich das Unternehmen Riedel Bau exakt an den Schalungsplan und folgte einer Orientierungshilfe der Statikerin, mit dem Stoß der Schalung die Stellung der innen liegenden, vertikalen Bewehrungsstäbe zu markieren. So konnte die erste spannende und heikle Kernbohrung ohne Gefahr ausgeführt werden. Ein eigens für diesen Zweck gefertigter Bohraufsatz fräste im Kronengehäuse 32 Millimeter dicke Proben aus der Betonsäule, die an Grabungsproben von Geowissenschaftlern oder an Probewürfel von Betontechnologen erinnern. Diese Kernbohrungen erfolgten im Abstand von wenigen Zentimetern und schufen die Ansatzpunkte zur Linienführung einer diamantbesetzten Seilsäge, mit der das Unternehmen Betontrenn den vertikalen Schnitt in einer Stärke von zwölf Millimetern ausführte.

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